Das neue Vertriebskartellrecht tritt heute in Kraft – Was die Regelungen für den Vertrieb in den kommenden 12 Jahren bedeuten
Am heutigen 1. Juni 2022 tritt die überarbeitete Verordnung (EU) 2022/720 zur Freistellung von Gruppen vertikaler Vereinbarungen („Vertikal-GVO“) sowie neue Vertikal-Leitlinien für vertikale Beschränkungen („Vertikal-Leitlinien“) in Kraft – Grund genug, einen Blick auf die wichtigsten Neuerungen zu werfen, welche das Vertriebumfeld in der gesamten EU für die nächsten 12 Jahre bestimmen werden.
1. Inkrafttreten und Geltungsdauer
Das heute in Kraft getretene neue Vertriebskartellrecht normiert die Anforderungen an einen kartellrechtskonformen Vertrieb bis zum 31.05.2034: Für die nächsten zwölf Jahre werden die neuen Regelungen also das Vertriebsumfeld in der EU bestimmen.
Vertikale Vereinbarungen, die am gestrigen 31.05.2022 bereits in Kraft und nach der Vorgänger-Verordnung (EU) 330/2010 freigestellt waren, bleiben für eine einjährige Übergangsfrist, (bis zum 31.05.2023) weiter freigestellt; Änderungen bestehender Vertriebssysteme müssen hingegen sofort die neuen Regelungen berücksichtigen.
Angesichts der Änderungen sollten Hersteller zeitnah überlegen, ihre Vertriebsverträge an die Neuregelung anzupassen und gegebenenfalls ihren Vertrieb umstellen, um den neuen Rechtsrahmen und die sich hieraus ergebenden neuen Spielräume für eine ebenso rechtssichere wie ihren individuellen Anforderungen genügende Gestaltung ihrer Vertriebssysteme zu nutzen.
2. Inhaltliche Änderungen
Die Grundstruktur der Gruppenfreistellung ändert sich nicht: Vertikale Vereinbarungen – zwischen zwei oder mehr Unternehmen, die auf unterschiedlichen Stufe der Produktions- oder Vertriebskette tätig sind und die die Bedingungen betrifft, zu denen die beteiligten Unternehmen Waren oder Dienstleistungen beziehen, verkaufen oder weiterverkaufen dürfen – werden mit Gesetzeskraft vom Kartellverbot freigestellt, wenn die Voraussetzungen der Verordnung erfüllt sind, insbesondere die doppelte Marktanteilsschwelle von 30 % nicht überschritten wird und keine Kernbeschränkungen enthalten sind.
a. Neue Definitionen
Die neue Vertikal-GVO enthält eine Reihe neuer Definitionen: Bislang nur in den Leitlinien definierte Begriffe wie „aktiver Verkauf“, „passiver Verkauf“ oder „Alleinvertriebssysteme“ werden erstmals legaldefiniert, Begriffe wie „Anbieter“ oder „Online-Vermittlungsdiensten“ zeigen den Fokus der Kommission auf Online-Plattformen und Online-Vermittlungsdienste.
b. Änderungen im Anwendungsbereich bei Wettbewerber-Stellung
Grundsätzlich ist eine Freistellung von vertikalen Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern weiter ausgeschlossen, doch zeigen sich wichtige Änderungen im Detail:
Keine Freistellung bei Wettbewerbsverhältnis auf der vorgelagerten Marktstufe
War eine Freistellung bisher nur ausgeschlossen, wenn ein Wettbewerbsverhältnis nicht nur im Vertrieb, sondern explizit auch auf der Herstellerebene bestand, kommt es künftig darauf an, ob ein Wettbewerbsverhältnis auf der vorgelagerten Marktstufe besteht – gleich ob die beteiligten Unternehmen dort Hersteller, Importeur oder Großhändler sind.
Nur noch beschränkte Freistellung des Informationsaustausches im dualen Vertrieb
Bislang war der Informationsaustausch zwischen auf Vertriebsebene potentiell konkurrierenden Anbietern und Abnehmern freigestellt. Künftig greift die Freistellung nicht, soweit der Austausch entweder nicht direkt die Umsetzung der vertikalen Vereinbarung betrifft oder nicht zur Verbesserung der Produktion oder des Vertriebs der Vertragswaren oder -dienstleistungen erforderlich ist. Dies betrifft insbesondere den praktisch wichtigen Bereich des dualen Vertriebs, bei dem ein Hersteller seine Spielwaren nicht nur über Händler, sondern zusätzlich in Konkurrenz zu diesen (insbesondere direkt an Endkunden) vertreibt. Positiv ist, dass die Kommission auf die erhebliche Kritik reagiert und davon abgesehen hat, ihren ursprünglichen Vorschlag einer weiteren Marktanteilsschwelle für den Informationsaustausch in die neue Verordnung aufzunehmen. Inwieweit sich die nun stattdessen vorgesehene qualitative Anforderungen in der Praxis bewährt, bleibt abzuwarten.
Keine Freistellung hybrider Online-Plattformen mehr
Eine wichtige Neuerung ist der Ausschluss der Freistellung für hybride Online-Plattformen, bei denen der Marktplatzbetreiber zugleich Wettbewerber auf dem Markt für den Verkauf der vermittelten Waren oder Dienstleistungen ist: Das Vertriebsmodell von Plattformen wie Amazon kann sich daher zukünftig nicht mehr auf die Freistellung nach der Vertikal-GVO berufen.
c. Änderungen bei den Kern-Beschränkungen
Die sogenannten Kern-Beschränkungen – deren Vorhandensein eine Freistellung insgesamt ausschließt – sind vollständig neu gegliedert, nämlich nach den Vertriebsformen Alleinvertrieb, selektiver Vertrieb und sonstiger Vertrieb. Inhaltlich sind die Änderungen allerdings weniger weitgehend, als es auf den ersten Blick scheint:
Verbot der Preisbindung
Das Verbot der Preisbindung zweiter Hand bleibt bestehen und verbietet nun auch Online-Vermittlungsdiensten (die nun definitionsgemäß ebenfalls „Anbieter“ sind) die Vorgabe von Fest- oder Mindestpreisen für die vermittelten Transaktionen.
Eine zentrale Neuerung bringt die Neuregelung zur Zulässigkeit von Doppelpreissystemen für online und offline verkauften Produkten: Andere Einkaufspreise für online verkaufte Waren und für offline verkaufte Produkte stellen künftig nur dann eine Kernbeschränkung dar, wenn sie darauf abzielen, die tatsächliche Nutzung des Internets durch den Käufer zu verhindern – nicht aber, wenn sie einen Anreiz oder eine Belohnung für unterschiedliche Investitionen eines Abnehmers in Online- oder Offline-Vertriebskanälen darstellen soll.
Die neuen Leitlinien enthalten darüber hinaus Hinweise zur Bewertung weiterer Verhaltensweisen wie die Verbote der Werbung mit Preisen unter einer bestimmten Schwelle.
Neuerungen zu Gebiets- und Kundenbeschränkungen
Beschränkung des Gebiets oder der Kunden, in das bzw. an die der Alleinvertriebshändler die Vertragswaren oder -dienstleistungen aktiv oder passiv verkaufen darf, sind weiterhin grundsätzlich als Kernbeschränkung unzulässig.
Die Ausnahmen, in welchen die Freistellung greift, unterscheiden sich nunmehr nach den Vertriebsformen Alleinvertrieb, selektiver Vertrieb und sonstiger Vertrieb: Je nach Vertriebssystem dürfen (i) aktive Verkäufe des Abnehmers und seiner (Direkt-)Kunden in Exklusivgebiete / an Exklusivkunden (die nun nicht nur einem, sondern bis zu maximal fünf Alleinvertriebshändlern gemeinsam zugewiesen werden können) untersagt werden; zudem dürfen (ii) Abnehmern aktive und passive Verkäufe an nicht zugelassene Händler in einem Gebiet untersagt werden, in dem der Anbieter ein selektives Vertriebssystem für die Vertragswaren betreibt – dieses Verbot darf künftig auch auf Kunden der Abnehmer erstreckt werden.
Neue Kernbeschränkung: Verhinderung der wirksamen Nutzung des Internets zum Verkauf der Vertragswaren oder -dienstleistungen durch den Abnehmer oder seine Kunden
Neben der bereits angesprochenen Legaldefinition aktiver und passiver Verkäufe und dem Ausschluss der Gruppenfreistellung für hybride Online-Plattformen bringen die neuen Regelungen weitere wichtige Neuerungen zum Online-Vertrieb:
Die neue Kernbeschränkung in Art. 4 lit. e) der Vertikal-GVO verbietet die Verhinderung der wirksamen Nutzung des Internets zum Verkauf der Vertragswaren oder -dienstleistungen durch den Abnehmer oder seine Kunden, schließt aber andere Beschränkungen des online-Verkaufs oder Beschränkung der online-Werbung nicht von der Freistellung aus:
Doppelpreissysteme, die für online vertriebene Vertragsprodukte andere Einkaufspreise vorsehen als für offline vertriebene, stellen demnach künftig nur eine Kernbeschränkung dar, wenn sie darauf abzielen, die tatsächliche Nutzung des Internets durch den Käufer zu verhindern.
Das bisherige Äquivalenzerfordernis entfällt, so dass Anbieter künftig für den Online-Vertrieb andere Kriterien vorgeben dürfen als für stationäre Verkäufe – sofern diese nicht darauf abzielen, die Vertragshändler am tatsächlichen Online-Verkauf der Vertragsprodukte zu hindern.
Die Nutzung von Preisvergleichsdiensten darf zwar nicht vollständig untersagt werden (Kernbeschränkung), doch können ein Verbot der Nutzung bestimmter Preisvergleichsdienste oder entsprechende Qualitätsanforderungen freigestellt sein, wenn dies nicht darauf abzielt, die effektive Nutzung des Internets durch die Abnehmer und ihre Kunden zu verhindern.
d. Änderungen bei den Klauselverboten: Wettbewerbsverbote und Paritätsklauseln
Bei den Klauselverboten – die nicht freigestellt sind, aber anders als Kernbeschränkungen nicht die Freistellung der gesamten Vereinbarung verhindern – gibt es wichtige Neuerungen:
Freistellung von sich stillschweigend verlängernden Wettbewerbsverboten
Wie bisher schon sind Wettbewerbsverbote nicht freigestellt, wenn sie für mehr als fünf Jahre vereinbart werden. Anders als bisher sind jedoch Wettbewerbsverbote, die stillschweigend über einen Zeitraum von fünf Jahren hinaus verlängert werden können, von der Freistellung umfasst, sofern der Abnehmer tatsächlich zu einem konkurrierenden Anbieter wechseln, die Vereinbarung also mit angemessener Frist und zu angemessenen Kosten kündigen kann.
Keine gruppenweise Freistellung für plattformübergreifende Paritätsklauseln
Neu aufgenommen in die Liste der nicht freigestellten Beschränkungen wurde das Verbot, einen Abnehmer von Online-Vermittlungsdiensten zu veranlassen, Endverbrauchern Waren oder Dienstleistungen nicht über konkurrierende Online-Vermittlungsdienste zu günstigeren Bedingungen anzubieten, zu verkaufen oder weiterzuverkaufen: Damit sind plattformübergreifende Paritätsklauseln künftig einer Freistellung nach der Vertikal-GVO entzogen.
3. Fazit
Das neue Vertriebskartellrecht bringt erhebliche Änderungen mit sich, die eine Anpassung bestehender Vertriebsverträge erforderlich machen. Gleichzeitig eröffnen sich neue Spielräume, insbesondere im Bereich der Gebiets- und Kundenbeschränkungen und hinsichtlich der praktisch äußerst Frage nach zulässigen Vorgaben für den Internetvertrieb, die Hersteller für sich und eine Umgestaltung oder Neujustierung ihrer Vertriebssysteme nutzen können. Ungeachtet der einjährigen Übergangsfrist sollten Überlegungen zur Anpassung der jeweiligen Vertriebsorganisation daher zeitnah angegangen werden, um die verbleibende Zeit für eine maßgeschneiderte Neuausrichtung des Vertriebs für die nächsten 12 Jahre zu nutzen.